PPR-NEWS
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KW 40/2024
Wie wir die Komplexität der überbordenden Informationen zur Welt besser ertragen, zeigt ein Blick in das menschliche Gehirn: ein Plädoyer für die besondere Fähigkeit des Vergessens
Sich erinnern kann jeder – vergessen lernen, das ist die Aufgabe
Sich zu erinnern heißt, vergessen zu müssen. Was für viele absurd klingt, ist tatsächlich längst eine unumstößliche Erkenntnis der Wissenschaft. Die Hirnforscher haben in vielen Studien gezeigt, dass Vergessen notwendig zum Leben ist. So ist es nur ein Aspekt der Neurowissenschaften, dass Menschen, wenn sie sich an etwas Konkretes erinnern, das ähnliche Andere vergessen, weil dieses stört. Dies ermöglicht erst die Kapazität des Erinnerns. Das Gehirn, so eine These von britischen Forschern, überschreibt konkurrierende Erinnerungen zueinander. Der Weg, sich zu erinnern, formt erst das Wissen darum, was erinnert wird und was nicht. Dass Erinnern auch Vergessen auslöst, ist eine noch recht neue Erkenntnis, die Wissenschaftler um Maria Wimper von der britischen Universität Birmingham im Fachblatt »Nature Neuroscience« versucht haben zu belegen. Die Wissenschaftler nutzten die moderne Technik des MRT. Während sie dem Hirn dabei zuschauten, was es tat, lernten menschliche Versuchspersonen, bestimmte Schlüsselwörter mit zwei unterschiedlichen Bildern zu verbinden. Die Probanden erinnerten sich mehrheitlich in allen Versuchen daran, was das richtige – also das erste – Bild war. So deutet die Studie drauf hin, dass es einen blockierenden Mechanismus gibt, der nach und nach die störenden Erinnerungen – das zweite Bild – weg wischt, damit Platz für das erste, richtige Bild bleibt. Damit ist gezeigt, dass Vergessen ein aktiver und kein, wie bisher angenommen, passiver Vorgang ist.
Vergiss, was du siehst und hörst und liest – und genieß es
Das Erinnern hat einen hohen Wert in unserer Gesellschaft. Alles soll parat sein. Zugleich strömen heutzutage derart viele Bilder, Texte und Geräusche auf uns ein wie nie zuvor. Wer sich dem Diktat des »Erinnere dich, dann bist du mehr wert.« unterwirft, quält sich durch den Tag der Medien und Sozialen Medien, der Begegnungen und Momente. Was nützt es uns zu wissen, wie der Aufsichtsratsvorsitzende von VW heißt (Huber, ein IG Metaller, der eher zufällig dort ist)? Was hilft es zu wissen, wie viele Kalorien eine Banane zählt? Die Komplexität der Signale, die heute in der Welt der Technik 1.0, 2.0, 3.0 und von mir aus auch 4.0 auf uns Menschen einströmen, ist, so die Pointe, nur dadurch zu steuern und zu ertragen, wer vergessen mag. Wer dann noch gelernt hat, dass das bewusste Vergessen möglich und im Gehirn vorgesehen ist, der kann lernen, sich zu erinnern – und lernen, welches Bild bleiben und welches vergessen werden darf. Ich selbst habe vergessen, wie die Zahnärztin hieß, die mich behandelte. Warum? Weil ich mich heute daran erinnere, dass mein Zahnarzt Herr A. ist – und er mir in vielen Jahren ein gutes Bild von seiner Praxis gab. Also, lernen wir fröhlich, auch einmal nicht Bescheid zu wissen – und stolz darauf zu sein, das im Gedächtnis zu behalten, was uns wirklich wichtig erscheint. Was will ich wissen? Ich will wissen, dass ich vergessen darf und damit ein ganz gesunder Mensch bin, der in komplexen Verhältnissen eine einfache Antwort auf sein Leben findet.