PPR-NEWS

327

KW 35/2024

Warum wir die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Zeiten des Turbo-Journalismus lieben lernten – und tatsächlich kluge Köpfe dahinter vermuten

Lang, lang ist’s her: Die FAZ ist ein Bildungsmedium für jeden deutschen Europäer geworden

»Dahinter steckt immer ein kluger Kopf« – mit diesem Claim warb und wirbt die FAZ seit 1964 für sich. Sie bat Politiker, Unternehmer und Künstler zum Stelldichein und demonstrierte damit die Behauptung, dass die Leserinnen und Leser die besonders klugen Köpfe in Deutschland sind. Die Kampagne erregte Aufmerksamkeit und Ablehnung zugleich, weil sie von vielen anderen als arrogant wahrgenommen wurde. Doch wer wie ich den Niedergang der Ressourcen, der Spesen und Arbeitszeiten im deutschen Journalismus beobachtet, der weiß genau, wie schwer es heute ist, einen guten Artikel zu liefern. Es waren goldene Zeiten, als Reporter und Redakteure zwei bis drei Wochen lang für ein Thema reisten, Ressourcen zum Lesen und zum tiefen Recherchieren besaßen. Als Spezialisten der Redaktionen bis in die letzten Winkel der Wissenschaft, der Labore und der Länder auszogen, weil die Verlagsindustrie ihnen die Mittel dazu an die Hand gab, war das Recherche auf höchstem Niveau. Die erste Seite der FAZ war ohne Fehler. Zum allgemeinen Rendite-Druck in der Medien- und Verlagslandschaft hat sich aber ein neues Phänomen gesellt. Wer heute die FAZ sowohl online als auch gedruckt liest, findet Grammatik- und Rechtschreibfehler. Was also lesen, wenn selbst ein Komma fehlt?

Dort stehen Fakten, wo woanders Stimmung gemacht wird

Die FAZ regte auf und hatte ein Publikum, das sich eher der Oberschicht und des konservativen Milieus zurechnete. Ihre Wirtschaftsseiten in den 80er Jahren und vor allem ihre Börsenberichterstattung, lange bevor N24 und n-tv auf den TV-Markt gingen, waren derart komplex und genau beschrieben, dass selbst Aktienhändler nicht immer den Autoren folgen konnten – gleichwohl die FAZ studierten, weil hinter den Berichten kluge Köpfe standen, die wussten, was sie schreiben wollten. So ist es bis heute: Wer Bildung im Sinne der Bildungsbürger schätzt, liest weiterhin die FAZ. Die politische Berichterstattung eines Urgesteins wie Günter Bannas ist Legende, das Feuilleton und die Literaturkritikerin Felicitas von Lovenberg sind bewundernswert. Die Wirtschaftsberichterstatter wissen, was EBIT, Junk Bonds und die Hintergründe der derzeitigen Krise der chinesischen Wirtschaft sind. Wer unterwegs ist und lernen möchte, was kluge Köpfe ausmacht, der schaut mehrfach am Tag auf die (bis heute kostenlose) Online-Ausgabe unter FAZ.net. Es gibt viele Gründe, die FAZ als Leitmedium zu empfinden. Wer wie früher denkt, dass die FAZ noch letzte konservative Bastionen verteidigt, übersieht, dass die Generationen der Redakteure sich aus heutigen Zeitströmen speisen. Ein Lob für die SPD, ein Kampf für die Umwelt, eine Kritik an der sächsische Landesregierung – all das ist dort zu finden, wo früher Wehrmacht-Gedanken in Leserbriefspalten untergebracht waren. So bleibt das Bild, das die FAZ (und ihr vor kurzem leider verstorbener kluger Kopf Frank Schirrmacher) von sich gerne gibt: Wer sie liest, ist klug; wer dahinter steckt, weiß eher, was er schreibt.

Thema der nächsten Woche: Mal was anderes: Warum der berühmte Schriftsteller Milan Kundera (Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins) seit Jahrzehnten kein Interview mehr gibt, erzählen wir – weil wir es lieben, wie unmodern er denkt

Zurück

Diese Website nutzt Cookies, um bestmögliche Funktionalität bieten zu können. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz