PPR-NEWS
326
KW 34/2024
Wie brilliante »Nerds« weltweit die Arbeitswelt 3.0 und 4.0 revolutionieren – und es kaum jemand wahrnimmt, bis es geschehen sein wird
Schöne neue (Arbeits-)Welt
Im Juni veröffentlichte das Bundesarbeitsministerium ein Grünbuch mit dem Titel »Arbeit 4.0«. Und vor Kurzem besuchte Arbeitsministerin Nahles die Zentrale von Microsoft Deutschland, um dort über das Thema zu diskutieren. Ein logisch gewählter Ort. Wir stehen kurz vor der vierten industriellen Revolution. Wie die Revolution 3.0 – die Digitalisierung – wird auch diese ihren Ausgangspunkt in den IT-Unternehmen des Silicon Valley haben. Bill Gates, Steve Jobs, Marc Zuckerberg, sie alle legten den Grundstein für diese Revolutionen. Oft bezeichnet man sie als »Nerds«. Der »Nerd« ist ein Stereotyp, der Vieles weiß über Technik und Computer, dem aber das Gespür für das Soziale oft fehlt. Inwieweit dies auf die Revolutionäre zutrifft, mag man diskutieren. Doch ob einer von ihnen tatsächlich die soziale Komponente seiner Arbeit richtig vorhergesehen hat, mag bezweifelt werden. Arbeit 4.0 heißt, eine noch weitere digitale Vernetzung bis hin zum »Internet der Dinge«, der Vernetzung von Gegenständen, und eine stärkere Automatisierung bis zu autonom arbeitenden Fabriken. Viele Jobs werden dabei verschwinden – übrigens auch eine Menge ungeliebter. Und es bieten sich neue Chancen: Die Arbeitswelt wird flexibler. Durch Notebook, Smartphone und Tablet – einst die Visionen einiger »Nerds« – ist Arbeit nicht mehr zeit- und ortsgebunden. Gearbeitet wird nun in Projekten, flexiblen Teams und über Clouds von überall her. Lebensläufe enthalten immer öfter Brüche. Ist das nun die schöne neue (Arbeits-)Welt?
Grenzen und ihre Auflösung
Mehr Flexibilität bedeutet mehr Selbstverantwortlichkeit, auch das ist ein Effekt von Arbeit 3.0 und 4.0. Dies kann eine neue Ära der gesellschaftlichen Selbstbestimmung einleiten oder – provokativ gesprochen – eine gewohnheitsmäßig ordnungs- und obrigkeitshörige Gesellschaft an ihre Grenzen bringen. Ob sie diese im positiven Sinne zu durchbrechen vermag, ist ungewiss. Auch bringt die Vision der völligen digitalen Vernetzung die Gefahr des endgültigen Verschwimmens realer und digitaler Identität mit sich. Schon heute bemerken wir eine Aufhebung der Trennung zwischen Privat- und Berufsleben. Jede berufliche wie private Information und Anforderung erreicht uns überall, jederzeit. Wo ist die Grenze dieser Entwicklung? Unternehmen wie Google verstehen es inzwischen, durch frei wählbare Arbeitsplätze, Freizeiteinrichtungen auf dem Firmengelände und Events für ihre Mitarbeiter Arbeit wie Freizeit aussehen und wirken zu lassen. Die – oft unbewusste – Selbstausbeutung mancher Angestellter ist die Folge. Ja, Arbeit 4.0 kann eine schöne neue Welt sein, wenn wir diese Revolution bewusst und kritisch wahrnehmen und gestalten. Sonst gestalten am Ende andere unser Leben. Wer ein Bild davon gewinnen möchte, wie Arbeit 4.0 im Negativen aussehen kann, dem sei Dave Eggers Dystopie »Der Circle« empfohlen – ein brillantes und realitätsnahes Werk, insbesondere über die sozialen Gefahren der vollständigen digitalen Vernetzung. Bei Eggers ist es am Ende übrigens der »Nerd«, der diese als erster erkennt.
Thema der nächsten Woche: Warum wir die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Zeiten des Turbo-Journalismus lieben lernten – und tatsächlich kluge Köpfe dahinter vermuten